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Engel im Untergrund

Sie nennen sich „Guardian Angels“, Schutzengel. Sie patrouillieren freiwillig in der U-Bahn von Berlin.
Wo sie sind, haben Schläger und Verbrecher keine Chance.

Berlin, Samstagabend. Es ist 19.30 Uhr und schlechtes Wetter. An dem kleinen Brunnen neben dem
U-Bahnhof Kleistpark unterhält sich eine Gruppe junger Leute schon seit einer Viertelstunde, einige in
Springerstiefeln und militärisch aussehenden Hosen. Alle haben eine rote Mütze auf dem Kopf. Fast alle
tragen dazu eine leuchtendrote Windjacke, auf dem Rücken die Aufschrift „Guardian Angels – Safety
Patrol“. Auf deutsch: Schutzengel – Sicherheitspatrouille.

Die freiwilligen Freizeitengel sind tagsüber Schüler oder Lehrlinge, Angestellte oder Gelegenheitsjobber.
Die nächsten Stunden werden die 18 jungen Männer und vier Frauen zwischen 16 und Anfang 30 in
Berlins U- und S-Bahnen umherfahren, auf Patrouille. „Gegen Gewalt – Gegen Rassismus – Gegen
Sexismus“. So lautet ihr Auftrag, und sie zahlen die Monatskarte selbst, die sie brauchen, um ihn erfüllen
zu können.

Die Idee ist schon 15 Jahre alt und kommt aus New York. Der damals 22jährige Curtis Sliwa, genannt
Rock, Chef einer McDonald's-Filiale in der Bronx, fuhr täglich mit der berüchtigten U-Bahn-Linie 4 zur
Arbeit. „Räuber Express“ hieß sie bei den New Yorkern, wegen der Räuberbanden und Gewalttäter, denen
die Passagiere in den Waggons meist wehrlos ausgeliefert waren. Sliwa wollte etwas dagegen tun; gemein-
sam mit 13 Jugendlichen aus der Bronx gründete er eine Gang für den Kampf gegen die Gewalt. Er nannte
sie Guardian Angels.

Natürlich erklärte man ihn anfangs für total verrückt. Aber er begeisterte seine Leute mit der Idee, wenigs-
tens eine Zeit lang im Leben etwas Sinnvolles zu tun, sich gegen die Aggression zu stellen, für sich und
andere Verantwortung zu übernehmen und Zivilcourage zu zeigen. Und zwar ohne Gewalt.

Das war ziemlich neu für Sliwas Straßenjungs. Deshalb trainierte er sie zuerst mal in Selbstdisziplin und
Selbstverteidigung. Seitdem muss, wer sich einer Gruppe der Guardian Angels anschließen will, min-
destens 72 Stunden Training und 64 Stunden Übungspatrouille absolviert haben.

Zehn Jahre später patrouillierten schon 350 Rotjacken in New Yorks 35 U-Bahnen, durch den Central Park
und in Straßen, deren Bewohner sich aus Angst vor Überfällen nicht mehr aus ihren Wohnungen trauten.
Inzwischen kommandiert „Rock“ Sliwa ein Heer von 5 000 Schutzengeln in 80 Städten der Welt, darunter
London, Manchester, Stockholm, Malmö. Und seit Januar 1993 auch in Berlin. Hier patrouillieren sie
jeden Donnerstag, Freitag und Samstag von 20 Uhr bis Mitternacht durch die Straßen und U-Bahnen, wenn
der Rest der Stadt sich amüsiert.

Anchor, der eigentlich Silvio Parlanti heißt, ist der Chef der Berliner Schutzengel. Früher arbeitete er in
der Immobilienfirma seiner Mutter. Damit hörte er auf, als ihn die Europa-Zentrale der Angels zum führen-
den Engel von Berlin machte.

Er lebt spartanisch, denn was er braucht, muss aus Spenden bezahlt werden. Jeder Cent, den sie sammeln,
geht für ihre Unkosten drauf, Büromiete, Telefon- und Faxrechnung müssen bezahlt werden. Also schläft
Anchor auf einer Matratze im Arbeitszimmer eines Freundes. Und zum Essen geht er manchmal in eine
nahegelegene Pizzeria: „Der Besitzer unterstützt uns. Da brauche ich nicht zu zahlen.

Es ist 20.00 Uhr. Am Kleistpark wird alles für die Patrouille kontrolliert. Sind alle ordentlich angezogen?
Schließlich sollen die Leute einen guten Eindruck von ihnen haben. Ist Erste-Hilfe-Material da? Angels
sind verpflichtet, zu helfen. Sind alle nüchtern? Wer Alkohol getrunken hat, kann gleich wieder nach
Hause gehen. Mitgebracht werden müssen: Personalausweis und Monatskarte für die U-Bahn. Nicht mit-
gebracht werden dürfen: Waffen aller Art wie zum Beispiel Taschenmesser.

Als die Patrouille auf dem U-Bahnsteig erscheint, blicken die Wartenden neugierig. Die Angels wünschen
jedem höflich „einen schönen guten Abend“. Die Vierergruppen nehmen ihre Position ein: eine vorn auf
dem Bahnsteig, eine in der Mitte, eine hinten. Der Zug kommt. Die Truppe steigt ein und verteilt sich auf
die Wagen zum Gespräch mit den Fahrgästen – einerseits, um Ängstlichen die Furcht zu nehmen, anderer-
seits zum Zwecke der Eigenwerbung. Das schafft Verständnis und bringt laufend neue Mitglieder.

Guardian Angels sind beliebt bei den Fahrgästen: Wo sie auftauchen, passiert garantiert nichts, ein paar
Stationen lang darf man sich sicher fühlen. Das ist wohl die eigentliche Wirkung der Schutzengeltruppe.
Nur selten mussten Berliner Engel bisher bei Prügeleien eingreifen, einmal erst bei einer Messerstecherei.

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